Meine sehr verehrten
Damen und Herren !
Kaldenkirchen feiert
die urkundliche Ersterwähnung vor 800 Jahren. Man kann dies laut und
ausgelassen tun und sich darauf beschränken, den vielen Veranstaltungen
unserer Spaßgesellschaft eine weitere bierselige hinzuzufügen, man kann dies
aber auch nutzen zur Vermittlung von Wissen über unsere Geschichte, zur
Beschäftigung mit ihren Höhen und Tiefen und zur Besinnung in Bescheidenheit
auf die Tatsache, dass wir nichts anderes sind als ein Glied in einer Kette
von rund 30 Generationen in der Geschichte unserer kleinen Stadt. Dieser
Part kommt mir heute für eine knappe halbe Stunde zu.
In dieser Zeit kann ich
nur einige Aspekte andeuten, nicht mehr und nicht weniger. Aber bei aller
besonders für den Historiker gebotenen Nüchternheit soll doch gesagt sein,
dass wir alle gemeinsam stolz sein können auf eine achthundertjährige
Vergangenheit und am Ende dieser Veranstaltung mit besonderem Recht und mit
großer Genugtuung das „Viele Hundert Jahre“ anstimmen dürfen.
Bei
Ersterwähnungen eines Ortsnamens regiert der historische Zufall.
Mit großer
Wahrscheinlichkeit ist der Name „Kaldenkirchen“ schon vor 1206 auf Pergament
geschrieben worden. Und sicher ist, dass es den Ort schon lange vorher gab.
Um das Jahr 1000 dürfte es hier schon eine Kirche gegeben haben.
Aber Zufall,
Wahrscheinlichkeit, Sicherheit hin und her: in den vorhandenen bekannten
Quellen zur Geschichte Kaldenkirchens kommt der Ortsname erstmals 1206 vor,
und zwar in einer Vereinbarung über die künftige Ehe zwischen Graf Gerhard
IV. von Geldern mit der brabantischen Herzogstochter Margaretha.
Den Text der Urkunde
kennen wir aus dieser mittelalterlichen Abschrift im Königlichen
Generalarchiv in Brüssel. Sie ist nicht besonders ansehnlich:
Umso ansehnlicher ist das Bildnis der beiden
hochherrschaftlichen Eheleute, zu deren Besitz das damals geldrische
Caldenkirken superius, also Oberkaldenkirchen, gehörte. Das Hochgrab vor dem
Chor der Münsterkirche von Roermond ist eines der bedeutendsten seiner Art
in den Niederlanden und zeigt liegend in edlen Gewändern den Grafen Gerhard
von Geldern und seine Frau Margaretha, die Herzogstocher von Brabant.
Machen wir uns beim
Anblick dieses wertvollen Denkmals des 13. Jahrhunderts klar: dies sind die
ersten namentlich benannten Herrscher über Kaldenkirchen, das damals als
Hochzeitsgabe an den jungen geldrischen Grafen gegeben wurde.
Wir befinden uns im Hohen Mittelalter:
Kaiser Barbarossa war erst 16 Jahre tot. In Rom saß Papst Innocenz III. auf
dem Stuhl Petri, die Gotik hatte ihren Siegeszug noch nicht begonnen. In der
Literatur war die Minnedichtung auf ihrem Höhepunkt und weit im Osten
wählten 1206 mongolische Fürsten Dschingis Khan zu ihrem Oberhaupt.
Wie groß Kaldenkirchen
damals war, wie das wichtigste Gebäude, die Kirche, aussah, und alle anderen
denkbaren Fragen: wir können sie nicht beantworten. Die Quellen geben es
einfach nicht. Immerhin wird der Ort in einer zweiten Erwähnung aus dem
Jahre 1230 villa genannt, was hier so viel wie Dorf bedeutet. Feste
Strukturen sind nur bei der Pfarre zu unterstellen, wie überhaupt die
weltliche Gemeinde und die Gemarkung aus dem Pfarrsprengel hervorgeht.
Am
Ende des Jahrhunderts, 1291, wird erstmals die Pfarre von Kaldenkirchen
genannt.
Die Geschichte der
Pfarre steht in der frühen Zeit klarer vor Augen als die der weltlichen
Gemeinde. Zum Beispiel können wir alle Pastöre mit relativ vielen
biographischen Daten seit 1343 benennen. Und es waren bedeutende darunter:
Hermann von Rennenberg, der während seines Studiums zusammen mit Erasmus von
Rotterdam in einem Hause in Freiburg gewohnt hatte, oder Nikolaus von
Nievenheim, dessen für den Abt von Steinfeld gestiftete Glasmalerei heute im
berühmten Victoria- and Albert Museum in London zu sehen ist. Pastor
Schnitzler, Sie sind der 36. in dieser respektgebietenden Reihe und
bekleiden damit das mit Abstand älteste Amt in Kaldenkirchen.
Dennoch möchte ich die
Kirchengeschichte hier nicht zu sehr vertiefen, sondern zunächst kurz auf
die staatlichen Verhältnisse eingehen.
Der
nordöstliche geldrische Teil des Ortes und der vormals den Grafen von Kessel
an der Maas gehörende südwestliche Teil kamen im frühen 14. Jahrhundert,
also vor rund 700 Jahren unter die Herrschaft der Grafen und späteren
Herzöge von Jülich. Zum Herzogtum Jülich gehörte Kaldenkirchen bis zum
Einmarsch der Franzosen 1794, ein halbes Jahrtausend fast. Mehr als die
Hälfte der nachvollziehbaren Geschichte Kaldenkirchens fand somit im Zeichen
der Machtausübung und der Landesherrschaft eines mittelgroßen Territoriums
des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation statt, das von Landesherren
beherrscht wurde, die bald von Jülich, von Kleve und besonders lange von
Düsseldorf aus regierten. Später wurden wir sogar von Mannheim und München
aus regiert. Seit 1609 waren die bayerischen Herzöge von Neuburg an der
Donau zugleich Herzöge von Jülich. Das Herzogtum Jülich war das, wenn es
auch für unsere Ohren fremd klingt, Vaterland unserer Vorfahren. Dort wo
heute die A 61 zwischen Breyell und Kaldenkirchen verläuft, verlief bis 1794
die Landesgrenze zwischen den Herzogtümern Geldern und Jülich. Einige Ältere
mögen sich noch an die Landwehr genannte Grenzanlage erinnern, die in von
knorrigen Bäumen bestandenen Erdwällen in Resten noch zu meiner Kindheit in
der Nähe des Altenhofes zu sehen war.
Die
Leuther und Lobbericher waren im Verhältnis zu uns Ausländer, dagegen waren
die Tegelner und Breyeller unsere Landsleute, denn sie gehörten mit uns zum
jülichschen Amt Brüggen, der unteren Herrschafts-, Gerichts- und
Verwaltungsebene. Halten wir also fest: staatliche Herrschaft haben unsere
Vorfahren fast ein halbes Jahrtausend lang mit der Brüggener Burg, der alten
Hauptstadt Jüich und später vor allem mit Düsseldorf verbunden.
Ein nach den Maßstäben der Zeit
selbstverwaltetes Gemeinwesen wurde Kaldenkirchen erst nach und nach. Ein
schönes Beispiel habe ich Ihnen dafür mitgebracht. Es war zugleich einer
meiner freudigsten und überraschendsten Archivfunde, die ich während der
Jahrzehnte meiner Arbeit an meiner Stadtgeschichte machen konnte.
Im Reichsarchiv von Limburg in Maastricht
liegt eine Urkunde aus dem Jahre 1487. Darin nehmen die Kaldenkirchener
einen Kredit beim Kreuzherrenkloster in Venlo auf, um ihren Kirchturm zu
bauen, der ja als Wachturm und Ort einer verbindlichen Zeitangabe
überwiegend weltliche Aufgaben erfüllte. Wer repräsentiert darin die
Gemeinde ? Arnt Spede, der Besitzer des Altenhofs und Vorfahr der heute noch
blühenden Grafen von Spee, die gemeinen Schöffen, Geschworenen, Kirchmeister
und Kirchspielsleute von Kaldenkirchen. Also noch keine Bürgermeister, noch
kein Stadtrat.
Das wird sich bald
ändern. Doch zuvor noch der Hinweis, dass Kaldenkirchen in gerichtlichen
Dingen eine Einheit mit Bracht bildete. Sieben Schöffen, vom Landesherrn
eingesetzt, bildeten das gemeinsame Gericht. Bracht stellte dabei vier und
Kaldenkirchen drei Schöffen.
Ein eindrucksvolles, ungewöhnlich großes
Siegel als Beglaubigungsmittel und gleichermaßen Hoheitszeichen dieses
Kollegiums ist in mehreren Exemplaren erhalten. Im Pfarrarchiv Bracht wird
sogar der Siegelstempel aufbewahrt. Es zeigt links den jülichschen Löwen und
rechts die thronende Gottesmutter als Patronin von Bracht.
Im 17. und 18.
Jahrhundert bilden sich nach und nach klarere Selbstverwaltungsstrukturen in
Kaldenkirchen heraus. Ein äußeres Kennzeichen dafür ist ein eigenes
Kaldenkirchener Schöffensiegel, das als Wappenbild den Hl. Clemens, den
Patron der Kaldenkirchener Kirche, zeigt und ein weiteres Mal andeutet, das
religiöse Symbolik in dieser Zeit, als das gesamte menschliche Dasein sub
specie aeternitatis (im Lichte der Ewigkeit) gesehen wurde, auch das
weltliche Leben durchdrang.
Das auf diesem Bild - leider nicht
abgebildet - zu sehende Siegel ist ein früher Beleg aus dem Jahre 1628. Der
heilige Clemens, er war der vierte Papst und der dritte Nachfolger Petri,
ist mit Tiara, Hirtenstab und Anker dargestellt. Mit dem Anker übrigens
deshalb, weil er der Legende nach mit einem Anker im Meer versenkt wurde und
so den Martyrertod starb.
Ein wesentlicher Hinweis
auf stadtähnliche Strukturen, die Kaldenkirchen insbesondere in der Zeit um
1600 annahm, war die Befestigung. Sie bot natürlich nur Schutz vor kleineren
Überfällen und Angriffen, aber immerhin war sie auch so markant, dass
Kaldenkirchen ab 1600 als Festung bezeichnet wird. Vier Bastionen, drei Tore
und eine Wall- und Grabenanlage hoben jetzt den Siedlungskern der Gemarkung
von Kaldenkirchen gegen das Umland ab.
Ein
wenig spürt man noch von dem alten Rechtsgrundsatz „Die Mauer trennt den
Bürger vom Bauern“, was soviel heißt, dass die Untertanen innerhalb des
befestigten Bereichs nach anderen Vorschriften lebten, als die außerhalb.
Denn auch in Kaldenkirchen hatten die außerhalb der Festung lebenden Bürger
zum Beispiel keinen Zugang zum sich gleichzeitig mit der Befestigung
herausbildenden Amt des Bürgermeisters.
Und es waren viele
Kaldenkirchener, die nicht innerhalb der Festung wohnten. Diese ebenfalls in
Maastricht erhaltene handgezeichnete Karte des Ortes von 1775 zeigt die
Ausdehnung der Gemarkung, deutet Besiedlungsschwerpunkte etwa am Bruch an
und lässt erkennen, wie klein die Festung selbst gemessen am Gemeindegebiet
war.
Dem rührigen Birgittinerprior und
Kaldenkirchener Pastor Aegidius Heinßen verdanken wir die Niederschrift des
Verfahrens zur Ermittlung der Bürgermeister von Kaldenkirchen. 1619 wird
erstmals ein Bürgermeister genannt. Seine einjährige Amtszeit wurde durch
eine Wahl am Dreikönigstag eingeläutet, bei der im Falle von
Stimmengleichheit der Wahlmänner der Pastor mit seiner Stimme den Ausschlag
gab.Anno 1686 den 6. Jan. ist zum Burgermeister erwehlet worden Derich
Wiemers. Anno1687 Lenhard auf gen Nist (woraus sich später der Name Nisters
entwickelt).
Freilich waren die
Aufgaben der Bürgermeister recht überschaubar: dazu gehörte auch die
Verfügung über die Schlüssel der Stadttore.
Die Zuständigkeit für
die Schule und die Armenpflege lag bei der Kirche.
Bürgermeister, Schöffen
und Geschworene des Fleckens Kaldenkirchen sind fortan für bestimmte Inhalte
der Selbstverwaltung zuständig, wenngleich jeder Vergleich zu heutigen
Gegebenheiten mit Vorsicht anzustellen ist.
Bisweilen freilich
konnte die Zuständigkeit bis in den Bereich der Gesundheitsvorsorge gehen.
Aus dem späten 18.
Jahrhundert hat sich ein insoweit interessantes Dokument erhalten. Der
Bürgermeister und die Schöffen, bestätigen, dass in Kaldenkirchen reine,
gesunde und mit keiner Contagion (also mit keiner ansteckenden Krankheit)
inficirte Luft war. Bescheinigt wurde das für den Tabakhändler Wilhelm
Janßen, der in den umliegenden Orten seinen Handel trieb und in einer Zeit
der Seuchen und Epidemien offenbar diese amtliche Bestätigung benötigte, um
eingelassen zu werden.
So unvollkommen die Gesundheitsvorsorge
unserer Vorfahren zu dieser Zeit war, so gering war auch der Bildungsstand.
Zwar ist seit 1560 eine Schule in Kaldenkirchen nachzuweisen, aber man war
weit davon entfernt, dass alle Erwachsenen lesen und schreiben konnten.
Mitgebracht habe ich diese Urkunde von 1627, die von allen Geschworenen des
Ortes, also immerhin von herausgehobenen Personen, unterzeichnet ist. Keiner
von ihnen konnte seinen Namen schreiben. Ihre Identität bezeugen sie mit
einem sogenannten Mirck oder Merkzeichen, das ungelenk mit eigener Hand
zwischen den von anderer Hand aufgezeichneten Vor- und Familiennamen
gekritzelt wurde. In dieser Urkunde waren nur der Kaplan und der Küster des
Schreibens mächtig.
Meine Damen und Herren,
immer wenn ich auswärtige Gruppen durch Kaldenkirchen und zu seinen
historischen Stätten führe, sage ich eingangs, dass die Geschichte dieser
Stadt im Vergleich zu zahlreichen anderen Gemeinden der Nachbarschaft sehr
viel Normales und Unspektakuläres aufweist. Zwei Merkmale sind es dagegen,
die das Besondere an Kaldenkirchens Geschichte ausmachen: die Grenzlage und
die konfessionelle Entwicklung seit dem 16. Jahrhundert.
Seit 1533 wissen wir von
reformatorischen Tendenzen, die um 1560/70 in eine reformierte, nach den
Lehren des Schweizer Reformators Johann Calvin verfasste Gemeinde mündeten.
Sie konnte die schweren Jahrzehnte bis zum Ende des 30jährigen Krieges
überstehen und schließlich das Recht zu freier Religionsausübung erreichen.
Trotz Minderheitenstatus
und Benachteiligung beim Zugang zu öffentlichen Ämtern bildete sich seit dem
17. Jahrhundert eine örtliche evangelische Oberschicht heraus, die kulturell
und wirtschaftlich, und im 19. Jahrhundert auch kommunalpolitisch
dominierend war. Mit ihr verbinden sich Namen wie Poensgen, Schmasen, von
der Kuhlen, Zilllessen, Kauwertz und andere.
Dieses Bild drückt
gleichsam architektonisch das Nebeneinander und auch den Gegensatz der
großen katholischen Gemeinde und der Minderheit der Evangelischen im Ort
aus.
Nicht eingehen kann ich
aus Zeitgründen auf die wichtige Rolle des 1625 gegründeten
Birgittenklosters Mariafrucht, das als Gegengewicht zu den erstarkenden
Protestanten errichtet wurde. Zu diesem ganzen Komplex wird es im Februar
eine eigene Vortragsveranstaltung geben. Birgitta von Schweden und ihr Orden
werden außerdem im Sommer Gegenstand einer eigenen Ausstellung sein.
Machen
wir einen großen Sprung mitten ins 19. Jahrhundert, zum zweiten Anlass
unseres Festjahres 2006. Ich übergehe damit –im Grunde unzulässigerweise-
die große Umbruchzeit der Französischen Einverleibung des Rheinlandes, die
napoleonische Zeit mit all´ ihren Verwerfungen wie der zwangsweisen
Schließung des Birgittenklosters Mariafrucht im Jahre 1802. – Ein Vortrag
von Prof. Dr. Jörg Engelbrecht in Kaldenkirchen im Februar wird diese Zeit
für alle Interessierten beleuchten.
Mit dem hier gezeigten
Allerhöchsten Erlass König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen wurde
Kaldenkirchen zu jenen Orten gezählt, die auf dem Provinziallandtag im
Stande der Städte vertreten waren. Kaldenkirchen war fortan auch amtlich und
mit königlicher Zustimmung eine Stadt. Dieser Schritt spiegelt nicht zuletzt
auch eine gewisse zentralörtliche Bedeutung der Grenzstadt wieder, wie sie
besonders in der bedeutenden Steuer- und Grenzbehörde Hauptzollamt zum
Ausdruck kam, außerdem ihre infrastrukturellen Fortschritte.
Eröffnung
Bahnlinie.
Für die Bevölkerung viel wesentlicher, für ihren Alltag viel spürbarer als
die Stadtrechtsverleihung war der Anschluss Kaldenkirchens an das
internationale Schienenverkehrsnetz. Die Eröffnung der Bahnstrecke
Venlo-Kaldenkirchen vor 140 Jahren wurde von den Kaldenkirchener für
damalige Verhältnisse zurecht als Anbindung an die Welt empfunden und
lebhaft begrüßt. Die hier gezeigte Einladung zum Festzug und den großen
Feierlichkeiten in Venlo galt natürlich nur für Honoratioren. Carl Stelkens
aus der alten Posthalterfamilie war einer von ihnen. Ohne den Bahnanschluss
hätte Kaldenkirchen längst nicht jenen Aufschwung auf vielen Gebieten
genommen, den wir in den kommenden Jahrzehnten verzeichnen können.
Lithographie.
Und so präsentierte sich Kaldenkirchen in
der frühen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Fremden von der Südseite,
also grob gesagt etwa von dem Standort, wo wir uns zur Zeit befinden: ein
teilweise noch von einer Mauer umgebener Ort, mit einer von den beiden
Kirchtürmen geprägten Silhouette, dazwischen ein Schornstein als Hinweis auf
die begonnene Industrialisierung, andererseits aber Landwirtschaft bis dicht
an die Stadt. Alles in allem ein überschaubares, geschlossenes Gemeinwesen,
in dem die Kirche noch mitten im Dorf ist.
Wilhelm II.
Seit 1814 war Kaldenkirchen preußisch. Hatte
später auch der Kulturkampf tiefe Wunden bei den Katholiken geschlagen, war
auch die Zuneigung zum protestantischen Herrscherhaus wohl nie von der
Innigkeit, die im Falle einer katholischen Dynastie zu erwarten gewesen
wäre, man arrangierte sich mit den Verhältnissen – und die grenzbedingt
zahlreiche Beamtenschaft tat ein Übriges zur Hebung patriotischer Gesinnung.
Selbstverständlich feierte die politische Klasse der Stadt jährlich den
Geburtstag des Kaisers. Einladungen zum Festessen wie diese sind für die
Zeit kurz nach 1900 im Stadtarchiv erhalten.
Kaldenkirchener Jugendwehr
Und der Hurra-Patriotismus fand auch Einzug
in die sonst beschaulichen Gassen. 1913 erlebte der Ort die pompöse
Einweihung eines Kriegerdenkmals und 1914 posierten Kaldenkirchen Jungen im
Bereich der Kreuzung Kehrstraße, Poensgenstraße, Jahnstraße mit einem
Schild, das den Fall Antwerpens bejubelt. Mag das auch sehr inszeniert
wirken, die Grenznähe hat gewiss dazu beigetragen, dass nationalistische
Untertöne hier leichter Eingang fanden als in anderen Orten der
Nachbarschaft.
Nach dem Ersten Weltkrieg war die hier als
bitter empfundene belgische Besatzung ebenfalls geeignet, nationalistische
Empfindungen zu pflegen und der Nationalsozialismus, der in seinem Denken
und Handeln so wenig der mehrheitlich vom katholischen Glauben bestimmten
Bevölkerung entsprach, fand doch Eingang und hatte ebenfalls nicht zuletzt
in Teilen der Beamtenschaft eine kräftige Stütze. So ging auch das dunkelste
Kapitel dieser Zeit nicht an Kaldenkirchen vorbei: auch hier wurde die
jüdische Gemeinde ausgemerzt, ihr Gotteshaus brutal zerstört.
Synagogenruine.
Für alles dies zahlte die Stadt einen hohen
Preis. Bombardierungen, Zerstörungen, Evakuierung und Plünderungen sind zu
nennen. Durch die Aufnahme überdurchschnittlich zahlreicher Vertriebener aus
den deutschen Provinzen östlich von Oder und Neiße entstanden viele
materielle, und große Integrationsprobleme, die nach meinem Eindruck aber
vollkommen gemeistert worden sind. Eine große Gemeinschaftsleistung der
gesamten Bevölkerung, die heute kaum noch bedacht wird.
Gebietsabtretungen.
Und nach 1945 war es noch nicht einmal
sicher, dass große Teile des Ortes nicht zu den Niederlanden geschlagen
wurden. Sie sehen hier die niederländischen Gebietsforderung, die
Kaldenkirchen entweder durch die Kleinbahn oder gar mitten im Ort geteilt
sein lassen sollte.
„Brücke zu den
Niederlanden“.
Vor diesem
geschichtlichen Hintergrund haben wir allen Grund zu Dankbarkeit und Freude,
dass die Grenze ihren trennenden Charakter weitgehend verloren hat und wir
uns heute, immer noch in der Tradition dieser Werbebroschüre aus den 50er
Jahren als “Brücke zu den Niederlanden“ verstehen – als Bestandteil der 1970
aus der Taufe gehobenen Stadt Nettetal, die sich ihrerseits als europäische
Stadt versteht.
Meine Damen und Herren!
Dies war weniger ein
Durchgang, als ein Durchlauf durch 800 Jahre Kaldenkirchen. An viele
Stationen musste ich vorbeigehen, an anderen war der Halt eigentlich zu
kurz. Aber das vor uns stehende Jahr wird vielfache Gelegenheit der
Vertiefung unserer Kenntnis der Geschichte der Stadt bieten. Ich kann Ihnen
nur empfehlen, die Angebote auch wahrzunehmen.
Beschäftigung auch mit
der Geschichte der eigenen Stadt ist nicht nur kurzweilig, nicht nur
informativ, nicht nur spannend, sie kann auch einen Beitrag dazu leisten,
die eigene Zeit, die Gegenwart in ihren Ansprüchen und in ihrem
Selbstbewusstsein zu relativieren, manches schneller als kurzlebig und
oberflächlich zu enttarnen und das Wesentliche vom Unwesentlichen, das
Flüchtige vom Bleibenden zu unterscheiden.
Wappen.
Schließen wir mit dem
heraldisch gelungenen, historisch aussagestarken Wappen von Kaldenkirchen,
das 1903 vom Kaiser persönlich genehmigt wurde und mit dem Anker als Hinweis
auf den heiligen Clemens die Erinnerung daran wach hält, dass unsere
Vorfahren sich stets der Endlichkeit ihrer irdischen Existenz bewusst waren
und ihren Lebensmut unter oft dürftigen materiellen Bedingungen aus ihrem
Glauben entwickelten. |